M. Fenn; M. Zülsdorf-Kersting (Hrsg.): Geschichts-Didaktik (Neuauflage 2023)

Cover
Titel
Geschichts-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II


Herausgeber
Fenn, Monika; Zülsdorf-Kersting, Meik
Reihe
Fachdidaktik
Erschienen
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 30,75
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Heuer, Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität Graz

Es gibt sicherlich nur wenige Bücher „der“ wissenschaftlichen Geschichtsdidaktik, die in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur als titulierte, sondern als „echte“ Handbücher sowohl in den institutionellen Kontexten der Geschichtslehrer:innenbildung als auch in jenen der Scientific Community „der“ Geschichtsdidaktik breite Verwendung gefunden haben. Eines davon stellte sicherlich das „Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II“ dar, das erstmalig 2003 von der Oldenburger Geschichtsdidaktikerin Hilke Günther-Arndt herausgegeben wurde, seitdem sieben Auflagen erlebte, zweimal aktualisiert und überarbeitet und nun, wie bereits auf dem Buchcover beworben, in „neue[r] Konzeption“ vorgelegt wird. Die Bände wurden breit gelesen, zahlreich zitiert und verkauften sich sicherlich exzellent. Die beiden Herausgeber:innen der Neukonzeption knüpfen an diese erfolgreiche Tradition bewusst an, betonen aber in ihrem Vorwort zugleich, dass der neue Band „auf einem höheren Abstraktionsniveau“ (S. 6) angesiedelt sei. Damit richtet sich das „Praxishandbuch“ wohl nicht nur an die Praxis ihres „adressierten Leserkreis[es]“ der (angehenden) Geschichtslehrer:innen, sondern auch an die Praxis „der“ Geschichtsdidaktiker:innen in Forschung und Lehre, zumal gleich zu Beginn darauf verwiesen wird, dass hier „erstmals eine umfassende Theorie historischen Lernens“ (S. 7) präsentiert wird. Ein Desiderat, auf das im geschichtsdidaktischen Diskurs seit längerem immer wieder hingewiesen wurde1.

Auch wenn dieses große Versprechen im Laufe der einleitenden beiden Basisbeiträge von Monika Fenn und Meik Zülsdorf-Kersting sukzessive kleiner gemacht wird, etwa wenn schnell von einem „lerntheoretischen Modell“ (S. 8) oder „Ansätzen einer Lerntheorie für den Geschichtsunterricht“ (S. 54) die Rede ist, gelingt es ihnen doch auf den ersten knapp 100 Seiten des Bandes in beeindruckender Weise, ihre Konzeptionen historischen Denkens, historischen Wissens, historischer Kompetenzen und historischen Lernens theoretisch plausibel, kohärent sowie anschaulich, durch zahlreiche Definitionen, Merkregeln, Grafiken (die jedoch ihre didaktische Funktion aufgrund der visuellen Überladenheit nicht erfüllen, beispielsweise S. 61 oder S. 70) sowie anhand von konkreten Beispielen aus der Praxis des Geschichtsunterrichts und der Historiographie zu präsentieren. Dazu ergänzen sie die bekannten geschichtsdidaktischen Konzeptionen und Modellierungen des deutschsprachigen Diskurses mit ausgewählten europäischen und insbesondere anglo-amerikanischen Perspektiven einer history education und vervollständigen ihre Überlegungen durch jene der Lehr-Lernpsychologie und der Neurowissenschaften. Vor diesem interdisziplinären Hintergrund unterscheiden sie den fachspezifischen historischen Denkstil in fünf vermeintlich distinkte Teiloperationen, die den Umgang mit historischen Fragen, Sachverhalten, Sach- und Werturteilen umfassen, sich jeweils in den Modi der Synthese und Analyse vollziehen können und sich im komplexeren Umgang mit historischem Erzählen und Narrationen manifestieren (S. 14-15). Außerdem systematisieren sie anschließend historisches Wissen in Anlehnung an gängige psychologische Modelle in vier Wissensbereiche, die sie als „historisches Sachverhaltswissen“, „konzeptuelles Wissen“, „methodisches Wissen“ und „metakognitives Wissen“ bezeichnen (S. 45). Im Sinne einer Weiterführung ihrer grundlegenden Ausführungen und konstruierten Wissensordnungen zum historischen Denken und den Zielen von Geschichtsunterricht, nämlich jenen der „Anbahnung historischen Denkens“, des „Erwerb[s] historischen Wissens sowie [der] Entwicklung historischer Kompetenzen“ (S. 6) entwickeln die beiden Autor:innen dann im zweiten Basisbeitrag ein eigenes Modell historischen Lernens für den Geschichtsunterricht, das sie in einem engeren Verständnis als „angestrebte Weiterentwicklung von Vorstellungen von und Einstellungen zu Vergangenheit und Geschichte“ (S. 58) verstanden wissen wollen.

Es ist dieses in den beiden Basisbeiträgen grundgelegte „theoretische Zentrum“ (S. 7), auf das sich die anschließenden Beiträge immer wieder, mal nachvollziehbar mehr, mal erfrischend weniger, beziehen. So umkreist Manuel Köster dieses Zentrum in seinem konzisen systemtheoretisch informierten Beitrag zu einer Theorie des Geschichtsunterrichts weit enger, als es Andreas Körber in seinen elaborierten Ausführungen zur Unterscheidung von „Leistungsbeurteilung und Kompetenzmessung“ tut. Beides tut der gewinnbringenden Lektüre der Beiträge keinen Abbruch. Weitere Umkreisungen findet der „Leserkreis“ zu einzelnen Aspekten einer Praxis des Geschichtsunterrichts. Diese reichen von einem systematisierenden Versuch zur Methodik (Markus Bernhardt), über Ausführungen zur geschichtstheoretischen Fundierung des Geschichtsunterrichts (Johannes Meyer-Hamme) und zur Auswahlproblematik (Ulrich Baumgärtner). Neben eher pragmatisch orientierten Ausführungen zum Umgang mit Quellen (Christian Kuchler), Darstellungen (Josef Memminger) und zur Unterrichtsplanung (Johannes Jansen/Holger Thünemann) finden die Leser:innen Überlegungen zur Geschichtskultur im Geschichtsunterricht (Martin Lücke), zur Bedeutung von Emotionen für das historische Denken und Lernen (Juliane Brauer) und zu den Herausforderungen und Chancen eines sprach- (Saskia Handro) und diversitätssensiblen Geschichtsunterrichts (Sebastian Barsch).

Zieht man das von den beiden Herausgeber:innen zu Beginn beschriebene Ziel des „Praxishandbuchs“ heran, dann bin ich der Meinung, dass (angehende) Geschichtslehrer:innen durch dieses Buch und die einzelnen Beiträge sicherlich vielfältige Anstöße bekommen, über ihren Unterricht als spezifischen Geschichtsunterricht wieder und anders nachzudenken, also geschichtsdidaktisch sehen lernen können, vielleicht ja auch „den Wald vor lauter Bäumen“ (S. 12). Dennoch lässt sich auch Kritik an diesem Band formulieren, auch wenn hier nicht der Platz ist, um sich eingehend mit den einzelnen Beiträgen auseinanderzusetzen. Dies wird in Hörsälen, in Lehrer:innenzimmern und Seminarräumen, in Aufsätzen und anderen Handbüchern stattfinden. Ob es beispielsweise plausibel ist oder vielleicht doch eher „Unsinn“2, immer wieder den „Umgang mit der Vergangenheit“ (z.B. S. 57) zu bemühen, besonders dann, wenn man sich als geschichtstheoretisch fundierte (S. 7) Geschichtsdidaktik für den Geschichtsunterricht zeigen möchte, kann hier ebenso wenig diskutiert werden wie die Verabsolutierung der letztlich ökonomischen Logik eines Angebot-Nutzungs-Modells von Geschichtsunterricht und die Degradierung der Geschichtslehrperson vom Professional zum Coach, der:die „solche Lernprozesse zu initiieren“ (S. 60) hat. Sicherlich lädt der Band ein, auch im Kontext „der“ Geschichtsdidaktik über die „learnification of education“3 zu diskutieren und sich zu fragen, warum die Ambivalenzen historischer Bildung und das Politische im Kontext dieser „Geschichtsdidaktik für den Geschichtsunterricht“, die auf das historische Lernen zielt, ebenso wenig Erwähnung finden wie zahlreiche andere Einwände etwa die geschichtstheoretischen Diskussionen um die Metapher der Quelle und um die der Gegenwärtigkeit historischer Materialien.

Letztlich aber wollen dies die Herausgeber:innen bewusst nicht, wie sie im Vorwort schreiben, nämlich „trefflich streiten“ (S. 6). So wird auch dieses Handbuch der Logik des Mediums gerecht4. Das vorgelegte „Praxishandbuch“ zielt weniger auf Streit, Auseinandersetzung und Multiperspektivität, sondern auf disziplinierte Einigkeit. Hier findet sich das geordnete Wissen „der“ Geschichtsdidaktik, das Praktiker:innen benötigen, um sich in den komplexen Herausforderungen und Widrigkeiten der Praxis des Geschichtsunterrichts nicht zu verlieren. Dafür, so die Herausgeber:innen in der Zusammenfassung ihres ersten Basisbeitrags, werden „keine abseitigen Spezialmodelle“ vorgestellt, sondern „der state of the art der Geschichtsdidaktik“ (S. 52). Und genau hier, in diesem unscheinbaren bestimmten Artikel, meine ich, steckt das größte Problem des vorgelegten Handbuchs, macht es sich gleich zu Beginn verdächtig. Denn, wer das ist, „die“ Geschichtsdidaktik, wird hier ebenso verschwiegen wie die eigene Rolle als Konstrukteur:in dieses „state of the art der Geschichtsdidaktik“. Und gerade weil sie ihre Verstrickungen nicht thematisieren, ihre Sehepunkte nicht markieren und sich selbst nicht als Akteur:innen im Feld „der“ Geschichtsdidaktik situieren, nämlich als Akteur:innen die markieren, ordnen, disziplinieren, ein- und ausschließen, machen sie sich und ihren „state of the art“ verdächtig. Sie stehen weit oben und scheinbar nicht mittendrin. Sie sprechen von „der“ Geschichtsdidaktik und nicht von ihrer. Vielleicht auch eine Form des „nostalgischen Positivismus“5 in der Wissenschaft? Denn so stiften sie auch hier Kontinuität zur ersten Auflage des Handbuchs 2003 und finden sich schnell im hegemonialen Diskurs „der“ Geschichtsdidaktik wieder, die ihren Anfang 1976 mit Karl-Ernst Jeismann findet und alles andere weitgehend ausblendet. Damals schrieb Bernd Schönemann: „Jeder, der wissen will, was man heute unter moderner Geschichtsdidaktik versteht, muss sich mit dieser […] Definition des Münsteraner Geschichtsdidaktikers Karl-Ernst Jeismann auseinandersetzen.“6 Aber auch „die“ Geschichtsdidaktik war alles andere als einheitlich und ist es bis heute geblieben: plural und heterogen, veränderlich und ephemer. Und so ist es gerade nicht „die“ Geschichtsdidaktik, die in diesem Praxishandbuch spricht, sondern situierte geschichtsdidaktische Akteur:innen in konkreten sozial-epistemischen Verhältnissen. Ein Blick in die zitierte und insbesondere die nicht zitierte Literatur genügt. Und auch ihre Ordnungen sind solche, die von jemanden für jemanden gemacht werden, zu einem bestimmten Zeitpunkt und zu einem bestimmten Zweck. Das Praxishandbuch erscheint damit in erster Linie als eine performative, disziplinpolitische Setzung, die den Herausgeber:innen dazu dient, „ihre“ neue Geschichtsdidaktik für den Geschichtsunterricht „ins Wahre“7 zu rücken.8 Im Kontext einer meta-reflexiven Lehrer:innenbildung, die auf Relationierung unterschiedlicher Perspektiven und deren Differenzen zielt9, passt dann aber die von ihnen bemühte Metapher des Kompasses nicht. Das von Monika Fenn und Meik Zülsdorf-Kersting vorgelegte „Praxishandbuch“ erscheint nicht als handlicher Kompass, sondern als der Norden.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Johannes Meyer-Hamme, Was heißt „historisches Lernen“? Eine Begriffsbestimmung im Spannungsfeld gesellschaftlicher Anforderungen, subjektiver Bedeutungszuschreibungen und Kompetenzen historischen Denkens, in: Th. Sandkühler / C. Bühl-Gramer / A. John / M. Bernhardt / A. Schwabe (Hrsg.), Geschichtsunterricht im 21. Jahrhundert. Eine geschichtsdidaktische Standortbestimmung, Göttingen 2018, S. 75-92, hier S. 76.
2 Achim Landwehr, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt am Main 2016, S. 32.
3 Vgl. Gert Biesta, What is Education For? On Good Education, Teacher Judgement and Educational Professionalism, in: European Journal of Education 50 (2015) 1, S. 75-87, hier S. 76-77; https://doi.org/10.1111/ejed.12109
4 Vgl. Angela N.H. Creager / Mathias Grote / Elaine Leong, Learning by the book. Manuals and Handbooks in the history of science, in: BJHS Themes 5 (2020), S. 1-13; https://doi.org/10.1017/bjt.2020.1
5 Frieder Vogelmann, Umkämpfte Wissenschaften – zwischen Idealisierung und Verachtung, Stuttgart 2023, S. 69.
6 Bernd Schönemann, Geschichtsdidaktik, Geschichtskultur, Geschichtswissenschaft, in: Hilke Günther-Arndt (Hrsg.), Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2003, S. 11-22, hier S. 11.
7 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt am Main 1991, S. 24.
8 Vgl. zum „Neuen“ in der Wissenschaft Thomas Etzemüller, Revolution oder Verschiebung? Das Neue als inszeniert Nicht-Neues. Ein Fallbeispiel aus wissenschaftssoziologischer Perspektive, in: Friedrich Jaeger / Sabine Voßkamp (Hrsg.), Wie kommt das Neue in die Welt? Kreativität und Innovation interdisziplinär. Abhandlungen zur Medien- und Kulturwissenschaft, Berlin/Heidelberg 2023, S. 213-228; https://doi.org/10.1007/978-3-662-65196-4_12
9 Vgl. Colin Cramer / Chris Brown / David Aldridge, Meta-Reflexivity and Teacher Professionalism: Facilitating Multiparadigmatic Teacher Education to Achieve a Future-Proof Profession. Journal of Teacher Education 74 (2023) 5, S. 467–480. https://doi.org/10.1177/00224871231162295

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